Von Daens Schrei geweckt, schreckte Auratus aus ihrem Schlaf hoch und sprang aus dem Bett.
"Was war das?" dachte sie sich zitternd.
"Der Schmied? Warum schreit er?"
Sie hastete zum Fenster um zu sehen, was draußen vor sich ging. Unglücklicherweise stieß sie mit dem Fuß zu sehr an die kleine Kommode unter dem Tisch, die Rückwand fiel mit einem leisen Knacken heraus und ein Brief kam zum Vorschein.
Leise fluchend und zugleich überrascht, hob Auratus den Brief auf und besah ihn sich genau.
Es war normales Papier, auf der Vorderseite stand mit dunkelblauer Tinte verschnörkelt geschrieben: "An meine Tochter Aurelia"
Auratus Herz begann zu rasen. Es war ein Brief von ihrer Mutter, ohne Zweifel. Aber was hatte sie ihr nur geschrieben? Und warum es ihr nicht einfach gesagt?
Fieberhaft überlegte sie. Sollte sie nun aus dem Fenster nach dem Schmied sehen oder den Brief öffnen?
"Ich als schwaches Weib kann nichts ausrichten, was auch immer dort unten wohl passiert..." dachte sie sich schwermütig und riss den Brief auf.

Meine liebste Tochter Aurelia,
ich hoffe, du findest den Brief erst nach meinem Tod, er soll dir erklären, was ich dir bisher nie zu sagen gewagt habe.
Du hast so ein gutes Herz, hast selbst die Kunst des Stickens perfektioniert, da kann ich dir einfach nichts mehr schuldig sein.
Schon immer wolltest du wissen, wer dein Vater ist. Ich konnte es dir nie sagen, wenigstens kann ich es dir nun schreiben. Du kennst ihn ganz bestimmt, er ist der Dorfschmied Daen Wallace.
Er war vor geschätzten 19 Lenzen meine große Jugendliebe, wir waren beide erst 17, aber wir liebten einander sehr. Wir waren glücklich, aber nur des Tages.
Des Nachts verwandelte er sich stets in einen Werwolf, ich war nur einmal bei der Verwandlung dabei und hatte sehr, sehr große Angst. Aber ich wußte ganz genau dass er mich über alles liebte, so tat er mir nichts. Wir gingen nachts durch die Wälder, er in seiner Wolfsgestalt. Es war schaurig und schön zugleich, ich verlor meine Angst vor seiner Wolfsgestalt. Die Liebe wahrte seinen Verstand in der Nacht.
Ja, ich sagte ihm, dass ich dich bekommen hatte. Einerseits freute er sich, andererseits hatte er Angst, dass du auch seinen Fluch bekommen haben könntest. Nichtsdestotrotz liebte er dich sehr.
Aber wir beide wußten, dass unsere Liebe verboten war. Er war der Königliche Schmied, ich nur eine einfache Frau.
Als du angefangen hast zu laufen, musste er uns beide verlassen. Das Risiko war zu groß, dass alles auffliegen würde.
Sei unbesorgt mein Kind, uns hat es nie an etwas gemangelt, er sah dich fast jeden Tag draußen mit den anderen Kindern spielen und war glücklich.
Er fand es nur jeden Tag schade, dass er dich nicht in seine Arme schließen konnte...
Jetzt weißt du die ganze Geschichte, mein Kind. Wieviel Werwolf in dir steckt, kann ich dir leider nicht sagen. Dein Vater schätzt, es ist nichts von seinem Fluch auf dich übergegangen und wenn doch, dann nur ein sehr geringer Teil.
Deine dich immer liebende Mutter


Da stockte Auratus der Atem, als sie fertig mit Lesen war.
"Daen...Ein Werwolf...mein Vater...?..." stotterte sie vollkommen verwirrt und legte den Brief auf den Tisch. Sie wollte nicht glauben, was sie da gerade gelesen hatte.

Daens Knurren und Jaulen riss sie aus ihren Gedanken.
"Vater...Ich muss ihm helfen!" dachte sie bei sich und raste die Treppe hinunter, stieß die Tür auf. Noch sah sie ihn wegrennen und rannte, so schnell es der Matsch erlaubte, ihm nach. "Bitte, verlass mich nicht! Ich habe schon Mutter verloren!" keuchte sie leise.

Mitten im düsteren Wald hatte sie die Orientierung verloren, ihre Füße schmerzten und sie war sehr außer Atem.

Ohne Rücksicht auf Verluste suchte sie weiter, da fand sie ihren Vater.
Als Werwolf zu einem Knäuel vor einem Baum zusammengerollt, darüber am Baumstamm hing Eissceda.

Ein mächtiges Schwert spießte aus seinem Rücken, Auratus wußte dass es schon zu spät war, trotzdem rüttelte sie den toten Werwolf, als würde sie ihn aus einem tiefen Schlaf aufwecken wollen.
"Vater...steh auf!" wimmerte sie, die Tränen flossen aus ihren Augen und tropften auf seine kalte Schnauze.
"Bitte, verlass mich nicht! Du bist alles was ich noch habe..."
Aber Daen gab keine Antwort mehr.
"Neeeiiin..." japste sie, warf sich über den toten Werwolf und kuschelte sich müde in sein kaltes, blutgetränktes Fell.
Jetzt hatte sie wirklich niemanden mehr.